Sitzstück No.8: Das Michelin-Männchen

Die Inspiration für den Entwurf einer neuen Sitzgelegenheit kann in dem banalsten Alltagsgegenstand schlummern. Von der Idee an bis zum Entwurf eines Klassikers ist jedoch ein weiter Weg.

Eine moderne Frau mit viel Geschmack und Humor zeichnet verantwortlich für ein Stück Sitzkultur, das eigentlich traditionell aus der Feder eines Mannes stammen müsste. Denn unser Sitzstück No.8 ist der perfekte Sessel für den begeisterten Automobilisten.

Das Fahrerlager an der Rennstrecke oder die Schrauberhalle auf dem Hinterhof sind in der Regel keine Orte, an denen besonderer Komfort erwartet bzw. verlangt wird. Denn dies sind Orte des Öls, des Adrenalins und manchmal auch der Tränen. Getrunken wird aus der Flasche und gesessen auf den heruntergefahrenen "Schlappen" der letzten Saison. Edles Leder findet sich im besten Falle im Interieur des umsorgten Oldtimers. Die zarte Frauenhand packt in dieser von Männerschweiß und Benzindunst durchdrungenen Welt seltener mit an.

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts wäre das natürlich noch ganz und gar unmöglich gewesen. Da konnte die Frau an sich froh sein, wenn sie wählen durfte. So kommt es zunächst überraschend, dass die feinsinnige Irin Eileen Gray (1878-1976)  1929 ausgerechnet das Symbol einer durch und durch männlichen Domäne als Inspirationsquelle nutzte. Umfangen von dicken Autoreifen und in weiches Leder gebettet, fühlt sich der wohl situierte und fortschrittliche Automobileigner der beginnenden 30er Jahre im Bibendum wie zu Hause. Der moderne Sessel ist zugleich Statussymbol und Ausdruck der geistigen und technischen Mobilität seines Eigners. Um im Sitzstück No.8 auch wirklich sitzen zu können, sollte letzterer
allerdings auch nicht zu klein gewachsen sein, denn sonst würde es ihm
schwer fallen, seine Arme lässig auf der wuchtigen Lehne zu platzieren.

Die Mobilität ist das Zeichen des Fortschritts


Als Eileen Gray den "Bibendum" entwarf, war sie bereits eine etablierte und erfolgreiche Designerin. Fast dreißig Jahre lebte sie schon in Paris, wo sie lange dem innersten Gestalter-Zirkel des Art-Deco angehörte. Die Einflüsse der holländischen Avantgarde und des Bauhauses ließen sie aber dann in den 20er Jahren neue Wege beschreiten. Wie sie nun gerade auf die berühmte Werbefigur des Reifenherstellers Michelin kam, lässt sich nur mit ihrem gestalterischen Eigensinn erklären, dem immer auch ein Löffelchen augenzwinkernder Humor beigemischt war. Denn Bibendum, das mopsige Reifenmännchen, war und ist ein Frankreich so etwas, wie ein Nationalheiligtum.

Seit 1891 erstmals ein Michelin Reifen auf ein Fahrrad montiert wurde, gehören Bibendum, das Radfahren und später der Motorsport in Frankreich untrennbar zusammen. "Nunc est bibendum! Auf ihr Wohl!" sagt das Michelin-Männchen auf einem der ersten Plakat und hält einen Pokal mit Scherben und Nägeln in der Hand. Der neue Luftreifen sollte alle "Hindernisse" schlucken. Von Eleganz und Grazie ist das Michelin-Männchen allerdings so weit entfernt, wie ein Fisch vom Flöte-Spielen. Um seine Bestandteile aufzuschneiden und sie in Form von dicken, wulstigen Polstern zur Lehne eines opulenten Salon-Sessels umzufunktionieren, brauchte es eine Menge Phantasie und Mut. Denn, wir erinnern uns, im Jahre 1929 entstand auch unser Sitzstück No.7, der Barcelona-Sessel.

Die Individualistin hat sich nie einem Trend gebeugt

Doch Bibendum und Barcelona könnten kaum gegensätzlicher sein. Eileen Gray profitierte natürlich von den Material-Innovationen des Bauhaus, mit denen sie jedoch deutlich spielerischer Umging. Die technische Umsetzung unterscheidet also die beiden Entwürfe nicht wesentlich. Die grundlegende Einstellung zu ihrer Arbeit lässt allerdings Gray und van der Rohe in zwei weit entfernte Lager rücken. Die Strenge der Bauhaus-Entwürfe vermittelt die rationale Ernsthaftigkeit, mit der nach neuen Formen geforscht wurde. Mit Spaß hatte diese Arbeit jedoch wenig zu tun. Natürlich war Eileen Gray nicht weniger ernsthaft bei der Sache, doch sie gab ihren Objekten auch immer ihren Humor und ihre kreative Selbstständigkeit mit auf den Weg. "Nonkonformist" nannte sie z.B. einen Stuhl mir nur einer Armlehne, der ebenso wie unser Sitzstück No.8 "Bibendum" dem Betrachter ein amüsiertes Lächeln entlockt.

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